Ernährung in Pflegeeinrichtungen: Wie Gefühle den Appetit steuern
So fördern Sie Genuss und Wohlbefinden in der Weihnachtszeit
„Essen ist ein Bedürfnis, Genießen ist eine Kunst“ resümierte einst François de La Rochefoucauld. Doch was ist, wenn das Bedürfnis nachlässt, weil die Freude am Essen verloren geht? Wenn der Appetit ausbleibt oder die Emotionen schwerer wiegen als der Hunger? Besonders in der Weihnachtszeit können Gefühle großen Einfluss nehmen.
Rund 30–50 % der Bewohner:innen von Pflegeeinrichtungen leiden unter Mangelernährung, oft nicht aufgrund fehlender Verpflegung, sondern wegen emotionaler, sozialer oder psychischer Belastungen (Deutsches Zentrum für Altersfragen, 2021). Emotionales Essen muss jedoch nicht nur Appetitlosigkeit bedeuten, sondern kann auch zu kompensatorischem Verhalten und einer Gewichtszunahme führen. Das könnten die Ursachen dafür sein:
1. Reaktives bzw. emotionales Essen
Emotionales Essen oder reaktives Essen heißt, man isst nicht primär aufgrund eines körperlichen Hungers, sondern als Reaktion auf Gefühle wie Stress, Frust, Langeweile oder Einsamkeit. Häufig sind es Lebensmittel, die „Belohnung“ und Wohlgefühl vermitteln: süß, fettreich, salzig.
Ursachen für Essen als emotionale Kompensation
- Stressreaktionen gehen mit einer erhöhten Ausschüttung von Cortisol einher. Dieses Stresshormon kann den Appetit steigern, insbesondere auf kalorienreiche Nahrungsmittel.
- Genussmittel wie Zucker oder fettige Speisen aktivieren das Belohnungssystem und führen zur Ausschüttung von Dopamin, was kurzfristig positive Gefühle hervorruft.
- Essen wird mitunter zur emotionalen Regulation genutzt, um negative Emotionen zu dämpfen und kurzfristig emotionalen Ausgleich zu schaffen.
2. Appetitlosigkeit
Bei Appetitlosigkeit nimmt dagegen das Verlangen nach Nahrung ab. Sie kann unter anderem durch psychische Faktoren wie Depression, Trauer, Einsamkeit oder soziale Isolation ausgelöst werden. Die durchschnittliche Häufigkeit des Auftretens für moderate Einsamkeit liegt in Pflegeheimen bei etwa 61 % und für schwere Einsamkeit bei ca. 35 % der Bewohner:innen (Gardiner et al., 2020).
Ursachen für Appetitlosigkeit
- Betroffene von Depressionen zeigen ein geringeres Verlangen nach fett- und proteinreichen Lebensmitteln im Vergleich zu gesunden Personen und bevorzugen eher kohlenhydratreiche Lebensmittel wie Süßigkeiten. Dies zeigt einen möglichen Behandlungsansatz auf und unterstreicht, wie wichtig es ist, den Proteinbedarf bei Senioren zu decken (Thurn et al., 2025).
- Appetitlosigkeit kann auch eine unbewusste Strategie sein, mit schwierigen Emotionen umzugehen. Dabei dient das Vermeiden von Nahrung als eine Art innerer Schutzmechanismus: Es hilft dem Betroffenen, in einer als unkontrollierbar empfundenen Situation zumindest über den eigenen Körper ein Stück Kontrolle zurückzugewinnen.
- Auch eine emotionale Belastung kann ausschlaggebend sein, wenn negative Gefühle so stark sind, dass sie hemmen – z.B. Angst, Stress oder ein negatives Selbstbild.
- Im sehr hohen Alter gehen Eigenständigkeit und Selbstbestimmung häufig verloren. Besonders deutlich wird dies bei demenziellen Erkrankungen, von denen etwa 69 % der Pflegeheimbewohnenden betroffen sind (Behrendt et al., 2022). Die Betroffenen haben Schwierigkeiten beim Erinnern, beim Planen von Mahlzeiten und zum Beispiel beim Verstehen des Hungergefühls.
Welche Wünsche und Bedürfnisse haben Bewohner:innen in Pflegeeinrichtungen?
Vor allem Bewohner:innen mit depressiven Symptomen und mit geringen körperlichen sowie sensorischen Funktionen berichten von unerfüllten Bedürfnissen (Duan et al., 2020). Erfüllte Bedürfnisse und Wünsche stehen wiederum in Zusammenhang mit erhöhter Lebensqualität und vermehrtem Wohlbefinden. So ist bekannt, dass erfüllte Bedürfnisse sich positiv auf depressive Symptome, Einsamkeit, Wohlbefinden und vor allem wiederum auf den Appetit von alten Menschen in stationärer Pflege auswirken.
Die ErnSTES-Studie (siehe auch bei Schweighart et al., 2022) zeigt jedoch, dass lediglich etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Bewohner:innen ihre Wünsche und Bedürfnisse in Bezug auf die Ernährung tatsächlich gegenüber den Pflegekräften äußern. Dies weist auf ein deutliches Kommunikationsdefizit hin. Häufig genannte Bedürfnisse, die dabei die Umgebung, den Appetit oder das Essen einschließen sind z.B.:
- genügend Platz bzw. große Räume,
- Beibehaltung einer bestimmten Raumtemperatur,
- Bequemlichkeit der Betten,
- sichere Verwahrung der Habseligkeiten,
- Personalisierung des Zimmers,
- traditionelle und interessante Mahlzeiten (wie beispielsweise die Vorschläge unter Tipp 2 unten) sowie Snacks,
- Mitentscheidung bei der Menüplanung,
- genügend Zeit, um die Mahlzeiten zu genießen sowie
- individuelle Speisezeiten oder -räume für demente und nicht-demente Personen.
Welche Rolle spielen Emotionen beim Essen in der Weihnachtszeit?
Gefühle beeinflussen, was, wie viel und wie gerne wir essen. Das geschieht oft völlig unbewusst. In der Weihnachtszeit können positive Emotionen wie Vorfreude, Geborgenheit und Nostalgie den Appetit anregen: Man freut sich über vertraute Düfte, über Lieblingsspeisen aus Kindertagen, über das gemeinsame Genießen. Das Belohnungssystem im Gehirn wird aktiviert, Dopamin und andere Wohlfühlhormone werden ausgeschüttet. Essen wird zum sinnlichen Erlebnis. Gerade die Dunkelheit, Kälte und das Jahresende können jedoch auch auf die Stimmung schlagen. Pflegeheime haben in dieser Phase des Jahres die Chance, Essen als Medium für Trost, Geborgenheit und zwischenmenschliche Nähe zu gestalten.
Folgende Tipps können Ihnen dabei helfen, diese besonderen Momente bewusst zu fördern:
1. Sinnliche Reize gezielt einsetzen
- Weihnachtlicher Raumduft: Duftschalen mit Zimt, Nelken, Orangenschalen oder Tannenzweigen auf den Tischen wirken emotional appetitanregend.
- Duftendes Backen im Haus: Schon der Geruch von frisch gebackenen Plätzchen oder getoastetem Brot kann Appetit machen.
- Leise Weihnachtsmusik im Hintergrund – am besten bekannte Lieder aus der Jugendzeit der Bewohner:innen – versprüht Nostalgie.
- Warme Lichtquellen & Kerzen (LED) auf den Tischen statt grellem Licht sorgen für mehr Gemütlich.
- Dekoration: Festlich gedeckte Tische mit Lichtern, Tannenzweigen oder kleinen Details regen die Sinne an.
2. Traditionelle und interessante Gerichte anbieten
- Klassiker wie Rotkohl, Klöße, Braten, Stollen, Plätzchen, Kartoffelpuffer, Vanillesoße, Milchreis mit Zimt, Linsensuppe oder Fisch am Heiligabend schaffen emotionale Verknüpfungen zur Kindheit oder Familie.
- Eine schöne Idee ist auch, alte und beliebte Regionalrezepte (zum Beispiel aus der Jugendzeit einzelner Bewohner:innen) wieder aus der Schatzkiste zu holen. Seien es Königsberger Klopse für die Berliner oder Schwäbische Linsen mit Spätzle für die Baden-Württemberger. Wie wäre es mit einem saisonalen, winterlichen und vegetarischen Gericht wie den Allgäuer Krautkrapfen – diesmal einfach ohne Speck?
- Klassische Gerichte wie Kartoffelsuppe mit Wienerle oder Milchreis gehören deutschlandweit zu den beliebtesten Speisen für Senior:innen und sind zudem gut zu kauen und leicht zu essen. Mit kleinen Abwandlungen lassen sich diese Gerichte auf spannende Weise neu interpretieren. Haben Sie schon einmal an einen Zitronen-Kokos-Milchreis gedacht oder an Milchreis mit untergehobenen gemahlenen Haselnüssen in der Weihnachtszeit? Auch ein winterlicher Eintopf mit Birnen, Bohnen und Speck für den Norden oder der Gaisburger Marsch für die Schwaben sind hervorragende Beispiele.
- Menüpläne mit kleinen Geschichten oder mit Weihnachtsmotiven verzierte Speisekarten wecken Nostalgie.
3. Essrituale und kleine Feierlichkeiten schaffen
- Adventskalender mit kleinen Aufmerksamkeiten im Speisesaal aufstellen.
- Adventscafé mit Musik und Kuchenbuffet z. B. an einem Sonntag im Dezember organisieren
- Wichteln oder kleine Tischgeschenke mit süßen Kleinigkeiten oder warmen Worten verteilen.
- Gemeinsames Singen oder Erzählen von Geschichten vor dem Essen.
- Nikolaus-Frühstück oder festliches Abendessen am Heiligabend mit Musik und Kerzenlicht veranstalten.
4. Warme Getränke und Suppen mit weihnachtlichen Aromen ausschenken
- Gewürztee mit Apfel-Zimt, Bratapfel, Vanille-Rooibos
- Gewürzmilch / Goldene Milch mit Kurkuma, Honig & Zimt
- Selbstgemachter alkoholfreier Punsch mit Zimtstange und Orangenscheibe
- Eierlikör-Milch
- Weihnachtliche Suppen, Brei oder Kompotte
5. Kleine, liebevoll angerichtete Portionen anbieten
- Probierhäppchen statt großer Teller – besonders bei Menschen mit geringem Appetit
- Fingerfood mit Weihnachtsbezug: Mini-Stollenstücke, Lebkuchenwürfel, Käse-Trauben-Spieße, herzhafte Sterne aus Blätterteig
- Bunte Plätzchenteller oder Dessertschalen
6. Bewohner:innen aktiv einbeziehen und dadurch die soziale Interaktion fördern
- Plätzchen gemeinsam backen oder verzieren z. B. mit Spritzbeutel, Glasur, Marmelade oder bunten Streuseln
- Rezeptwünsche einsammeln: „Was gab’s bei Ihnen früher zu Weihnachten?“
- Tisch mit selbstgebastelten Serviettenringen, Sternen oder Tannenzweigen gemeinsam dekorieren
- Koch- oder Backgruppen: organisierte Aktionen in der Küche wie gemeinsames Marmeladekochen
- Schnibbel- oder Kartoffelschälgruppen: Gemüse oder Obst wird zum Verzehr vorbereitet
7. Erinnerungshilfen einsetzen
- Fotos von früheren Weihnachtsfesten oder Motiven zeigen und dazu austauschen
- Dias oder Filme von Winterlandschaften oder Weihnachtsmärkten anschauen
- „Erzählrunden“ oder Fragerunden am Tisch veranstalten: „Was war Ihr schönstes Weihnachtsessen?“
8. Humor & Leichtigkeit einbauen
- Menüs und Gerichten humorvolle Namen verleihen: z. B. „Rentierschmaus“, „Engelsdessert“ oder „Schneemann-Quark“
- Weihnachtliche Tischsprüche oder kleine Reime als Auftakt zum Essen aufsagen
- Lachgeschichten oder Witze des Tages als Ritual vor dem Mittagessen erzählen
Das Wissen auf einen Blick
- Emotionen steuern das Essverhalten – von Stress und Einsamkeit bis hin zu Freude und Nostalgie.
- Mangelernährung betrifft 30–50 % der Bewohner:innen und entsteht häufig durch psychische oder soziale Belastungen.
- Appetitlosigkeit kann durch Depression, Einsamkeit, Angst oder demenzielle Veränderungen ausgelöst werden.
- Emotionales Essen und Heißhunger entstehen durch Stress.
- Positive Essumgebungen und soziale Einbindung steigern Appetit und Wohlbefinden – besonders in der Weihnachtszeit.
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